Virtual Talk with Jörg Noller

Abstract

In unserer hochdigitalisierten Welt ist eine digitale Aufklärung gerade deswegen nötig, weil die Digitalisierung nicht nur neue Möglichkeiten und Freiheiten eröffnet, sondern auch die Gefahr einer digitalen Unmündigkeit mit sich führt. Immanuel Kant hatte vor über 200 Jahren Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (8:35) bestimmt. Er diagnostiziert und kritisiert Unmündigkeit gerade durch Verweis auf unseren Mediengebrauch. Formen der Unmündigkeit erblickt Kant in der Medialität, also der Vermittlung unserer geistigen Vermögen: Ein Buch ersetzt meinen Verstand, ein Seelsorger ersetzt mein Gewissen, und ein Arzt meine Urteilskraft. Nach Kant ist diese Medialität unserer Vernunft so tief in unseren Alltag und unsere Lebenswelt eingedrungen, dass uns diese selbstverschuldete Unmündigkeit „beinahe zur Natur“ geworden ist. Wir erliegen nach Kant dieser medial bedingten Unmündigkeit jedoch nicht einfach so, sondern sind selbst die Ursache dafür, dass wir in eine mediale Unmündigkeit geraten sind. Was aber sind die Gründe für diese selbstverschuldete Unmündigkeit? Kant macht vor allem „Satzungen und Formeln“, also Vorschriften und Anleitungen des Menschen als „mechanische Werkzeuge eines vernünftigen […] Missbrauchs seiner Naturgaben“ aus und beschreibt sie als „Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit“ (8:36). Wir folgen diesen Satzungen blindlings, ohne sie kritisch zu reflektieren und ihnen auf den Grund zu gehen. Inwiefern ist jedoch Kants Begriff der Aufklärung für die gegenwärtigen Entwicklungen der Digitalisierung noch relevant? Inwiefern unterliegen wir einer „digitalen Unmündigkeit“ und bedürfen deswegen einer „digitalen Aufklärung“? Die von Kant kritisierte Tendenz, uns selbst durch unseren Mediengebrauch unmündig zu machen, können wir auf die aktuelle Problematik künstlicher Intelligenz übertragen. Denn künstliche Intelligenz automatisiert und ersetzt immer mehr unsere Urteilskraft, und Algorithmen ähneln jenen von Kant kritisierten „Satzungen und Formeln“, die im schlimmsten Fall zu „Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit“ werden. Auf diese Problematik einer digitalen Unmündigkeit hat in jüngster Zeit Jürgen Habermas in seiner Schrift Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik hingewiesen. Habermas spricht von einer „halböffentlichen, fragmentierten und in sich kreisenden Kommunikation […], die deren Wahrnehmung von politischer Öffentlichkeit als solcher deformiert.“ (2022, 11 f.) Eine solche digitale Blasenbildung, in welcher Illusion, Fiktion, Simulation und Realität verschwimmen, wird durch die Verbreitung von fake news weiter verschärft. Wie aber können wir der digitalen Unmündigkeit entgehen, d.h. kritisch zwischen bloßer Illusion, Simulation, Fiktion und Realität unterscheiden? Wie können wir vermeiden, zu bloßen Datenobjekten kommerzieller Algorithmen reduziert zu werden? Kant hatte unsere Freiheit als Ausgang aus unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit bestimmt, und zwar im Sinn eines „öffentlichen“ Gebrauchs unserer Vernunft (8:36). Wie aber können wir Kants Einsicht in die Gründe unserer Unmündigkeit und den Ausgang aus dieser Unmündigkeit auf die heutige Situation der Digitalisierung übertragen? Anders gefragt: Worin kann ein öffentlicher Gebrauch unserer digitalen Vernunft und eine digitale Öffentlichkeit bestehen? Der Vortrag diskutiert diese Fragen anhand des Phänomens künstlicher Intelligenz. Er diskutiert verschiedene Formen von Mensch-Maschine-Interaktion und identifiziert jene, die sich im Sinne Kants als öffentlicher Gebrauch der Vernunft verstehen lässt.

Bio

Dr. Jörg Noller studierte Philosophie, Geschichte, Literaturwissenschaft und Ev. Theologie in Tübingen und München. Er promovierte zum Problem der Autonomie nach Kant an der LMU München und habilitierte sich dort über personale Lebensformen. Forschungsaufenthalte führten ihn an die University of Notre Dame, Chicago und Pittsburgh. Nach seiner Habilitation vertrat er Lehrstühle für Praktische Philosophie an den Universitäten Konstanz und Augsburg. Momentan ist er Leiter eines Forschungsprojekts zum Problem des Irrtums nach Kant an der Universität Leipzig.

Zoom Registration

Please register with office@c3s.uni-frankfurt.de to receive the Zoom login.

Back to the event overview